Das Gefühlsleben des empfindsamen Musikliebhabers lässt sich in zwei Abschnitte aufteilen – die Zeit vor der ersten Begegnung mit Sigur Rós und die Zeit danach. In der Zeit vor Sigur Rós hielt man Radiohead für die introvertierteste Band aller Zeiten und Howard Shore für den besten Komponisten von Filmmusik. Jetzt weiß man, dass es einen Ort gibt, in den man flüchten kann, wenn die Tage zu kurz werden und die Antworten zu fern liegen. Dieser Ort liegt zwischen den Kopfhörern dieser Welt, aus denen die unwirkliche Musik von Sigur Rós klingt, die einen (je nach Veranlagung) direkt nach Phantasien, Mittelerde oder in die karge Schönheit nordischer Länder befördert. Keine andere Band klingt so weit entfernt und zugleich dem Hörer so nah wie diese. Diese Erfahrung wird auf Live-Konzerten der Band noch verstärkt, wenn Sänger Jónsi Birgisson weltentrückt und mit geschlossenen Augen seiner Gitarre mit einem Cellobogen fremd anmutende Klänge entlockt und dazu scheinbar nur für sich selbst auf Isländisch und teilweise in seiner selbsterdachten Fantasiesprache Hopelandic singt und gleichzeitig das Puplikum nicht zu atmen wagt, weil man dadurch auch nur den leisesten Ton der Darbietung verpassen könnte. Die recht opulent instrumentierten Lieder von Sigur Rós tragen Titel wie „Svefn-g-Englar“ (Schlafwandler) oder „Hoppípolla“ (frei übersetzt: in Pfützen rumspringen) und transportieren in jedem Moment ein fast schmerzhaftes Gefühl von Sehnsucht.
Nach vier Studioalben erscheint jetzt mit Hvarf/Heim (Hafen/Heimat, gar nicht so schwer, was?) eine Art Doppel-EP von den vier Isländern, die im ersten Teil fünf grandiose Studioaufnahmen enthält, darunter die eingängige Single „Hjómalind“ und eine neu aufgenommene Fassung des Titelstücks ihres ersten Albums Von. Der zweite Teil beschert dem Hörer die Band auf eine Weise, wie er sie wahrscheinlich bisher noch nicht erleben durfte. In den abgelegensten Winkeln Islands enstanden diese Live-Aufnahmen, die man als „unplugged“ bezeichnen könnte, aber bitte ohne die übliche Lagerfeuerassoziationen aufkommen zu lassen. Sechs ihrer besten Songs werden dort in einer Intimität dargeboten, das man im ersten Moment fast zurückschreckt und überlegt, ob man diese Nähe überhaupt riskieren möchte, oder ob das die Beziehung zu der Musik von Sigur Rós nicht nachhaltig beeinflussen könnte. Kann es. Und wird es. Und das ist es wert. Jede einzelne Sekunde von „Vaka“, von dem man bisher nicht mal wusste, das es so heißt, da die Lieder von ( ) damals keine Titel trugen, rührt einen zu Tränen. Am besten man verkriecht sich mit dem Kopfhörer unter der Bettdecke und lässt sich von dieser Musik trösten, bis die Tage im Februar wieder länger werden.
(9 Punkte)
Diskografie von Sigur Rós:
1997 – Von
1999 – Ágaetis Byrjun
2002 – ( )
2005 – Takk
2007 – Hvarf/Heim
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