Hamilton

Ihr kennt mich als Kinoexperten, der sich zum einen von der Marketingmaschine der Filmkonzerne nicht blenden lässt und Euch knallhart wissen lässt, was Müll, was Perlen und was Knabberkram ist. Wobei ich, wie erwähnt, in letzter Zeit Fast-Food praktisch komplett ignoriere – und daher kaum noch im Kino bin. Ist halt schwierig, Filme ohne Superhelden zu finden. Aber ich schweife ab.

Ein weiterer, nicht zu unterschätzender, Arm der Unterhaltungsindustrie ist nun aber auch die Musicalbranche. Da mag der Liebhaber des ernsthaften Theaters die Nase rümpfen, aber für Technikfreaks wie mich haben Musicals meist deutlich mehr zu bieten, und wenn dann noch Herzblut und eine packende Geschichten dazukommt, dann ist es um mich geschehen. Allerdings kommt diese Kombination gar nicht so häufig vor, wie einen die saftigen Ticketpreise es glauben machen. Genau genommen (und da spreche ich natürlich nur für mich) trifft das eigentlich nur für für die gut abgehangene Klassiker Das Phantom der Oper und König der Löwen zu. Jukebox-Musicals wie Dirty Dancing, Tina und School of Rock über „nett“ nie heraus, trotz technischem Bombast, und auch sichere geglaubte Abräumer wie „Aladdin“ oder „Wicked!“ blieben trotz bester Vorraussetzungen blutarm.

Insofern war ich SEHR skeptisch, dass ausgerechnet ein Hip-Hop-Musical über einen (selbst in den USA) kaum bekannten Gründungsvater der USA da herausstechen würden, zumal mit eingedeutschten Texten – nennt mir bitte EIN Stück mit gelungener deutscher Übersetzung. Dann keine nennenswerte Bühnentechnik dazukommt und ein New Yorker Hinterhof als ausschließlich Kulisse, und das Ganze lässt sich bei Disney + streamen? Sicherer Flop, Stage.

Ohne Erwartungen fand ich mich dennoch im Theatersaal wieder, um das Fiasko live zu erleben. Gut 3 Stunden später stand ich mit dem restlichen Publikum laut klatschend, ergriffen, den Tränen nah, am selben Ort und konnte nicht fassen, was passiert war. Meine Hall of Fame hatte einen weiteren Eintrag erhalten, noch auf dem Heimweg war der Sountrack gekauft und die wichtigsten Infos zusammenrecherchiert, um das mit dem Schlussapplaus gebliebene Vakuum zu füllen.

Ja, ich lag völlig falsch – Hamilton ist nicht nur ein Meilenstein des Musicals, sondern auch die deutsche Fassung davon ist es. Ob es nun an der coronabedingt längeren Vorbereitungszeit lag, oder an Lin-Manuel Mirandas Akribie bei der Abnahme der deutschen Übersetzung von Kevin Schroeder und Sera Finale, oder an beidem, egal. Die Übersetzung ist hervorragend, die Schauspieler sind es durch die Bank weg auch (wenn nicht sogar vereinzelt besser als die US-Originale), insofern: Chapeau!

Die Geschichte selbst funktioniert auch in Deutschland überraschend gut, auch weil sie ihre Figuren so vielschichtig und menschlich sind, sondern auch, weil sie sich nicht mit Klischees begnügt, sondern immer gerne wieder mit Tiefgang und Wendungen überrascht – bestes Beispiel: Satisfied.

Davon abgesehen sind auch die übrigen Aspekte des Stücks wie Musik, Choreographie, Licht-, Sound-, Bühnen- und Kostümdesign wirklich herausragend gut (und nicht umsonst praktisch ausahmslos preisgekrönt), allerdings mit geradezu hanseatischem Understatement erst bei näherem Hinsehen.

Die Musik? Vordergründig Hip-Hop, wer’s mag, aber eben auch noch weitere Musikstile , von Beatle-eskem Pop über R’n’B und auch musicalgerechten Balladen, die eben auch als Stilmittel eingesetzt werden. So lag für Hamilton, berühmt als ein ausdauernder Redner und Vielschreiber, laut Autor, Texter und Songwriter Lin-Manuel Miranda Hip Hop geradzu auf der Hand, um möglichst viel Text in 2:30 Musical zu stecken. Aber die Musik ist auch tatsächlich wirklich, wirklich gut und hat eine vielleicht auch erst auf den zweiten Blick überraschende Tiefe – dazu empfehle ich die Song Exploder Episode zu Wait for It (bei Netflix).

Hohes Tempo prägt das ganze Stück. Das hohe Tempo erforderte eine minimalistisches Bühnendesign, da große Umbauten zeitlich gar nicht möglich wären. Stattdessen werden mit Choreographie und Licht ständig wechselnde Szenerien geschaffen, immer perfekt im Takt der Musik – es passiert ständig etwas, so gibt es über tausend Cues, davon alleine über 800 Licht (Macht also bei 2:30 alle 9 Sekunden einen Einsatz – wer sich damit nichts anfangen kann: Hier ein Beispiel). Überhaupt die Choreographie: Das ist etwas, von ich nichts verstehe. Gar nichts. Aber selbst ich habe eine Ahnung, wie hervorragend sie ist, und wie sie das Stück trägt (Beispiel)

Das Bühnenbild ist zwar wie erwähnt auf den ersten Blick schlicht – New Yorker Hinterhof, Backsteinbau, Gerüste, Seile, Holz, halbfertig. Aber Set Designer David Korins verleiht ihm mit viele kleine subtilen Details Komplexität. Wobei mein persönliches Highlight ist, IN der Pause (!) Kulissenteile von oben eingeflogen werden, um die Backsteinwände zu verlängern und einen fertigeren Eindruck zu geben, was das Werden der USA als Staat unterschwellig symbolisieren soll (Link). Dieses unverschämte Stück Understatement ist quasi der Mic-Drop des Bühnenbildners – brillant.

Am offensichtlichsten ist, das an Licht- und Tontechnik alles ins Operettenhaus gequetscht wurde, was geht. Lichtdesigner Howell Binkley schafft damit (und den erwähnten 800 + x Cues) den Spagat zwischen Popkonzert und Bühnenbeleuchtung. Zum einen gelingt es ihm, immer wieder neue Facetten des Bühnenbild herauszustellen, zum anderen aber auch die Musik konzertartig in Szenen zu setzen. Sound Designer Nevin Steinberg wiederum durfte an Geld ausgeben, was er wollte, und hat das Theater mit allerfeinster Soundanlage und tausenden von Lautsprechern bestückt hat, um so jedem Zuschauer den perfekten Sound zu bieten, und das mit einer beeindruckenden Dynamik und unverschämt tiefen Bässen.

In Summe bleibt ein wirklich hervorragendes Stück, das ich mit Sicherheit nicht zum letzten Mal gesehen habe, und das ich nur jedem Musicalfan ans Herz legen kann, dem Mal nach etwas Abwechslung ist. EINZIGER Kritikpunkt von mir, dafür aber ein gewichtiger, ist, dass die Darsteller nach dem Schlussbild sich nur EINMAL zum Applaus auf der Bühne versammeln, und ihr ergriffenes Publikum danach mit ihren Emotionen allein im Saal zurücklassen. Insofern: Gebt Szenenapplaus, soviel ihr könnt!

1 Gedanke zu „Hamilton“

  1. Vielleicht gibt es ja bald eine neue Rezensionsreihe zum Thema Musical hier zu lesen? Das wäre doch zusätzlich zum Thema Kino sehr spannend und erhellend! In diesem Sinne warte ich auf den nächsten Beitrag!

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