„Jan Plewka singt Rio Reiser“ im Hamburger Schauspielhaus

Entweder man ist in den Siebziger Jahren aufgewachsen und hat sich den Deutschen Herbst mit der Musik von Ton Steine Scherben untermalen lassen. Oder man ist in den Neunziger Jahren groß geworden und hat sich an der Musik von Selig berauscht. Im besten Fall ordnet man beide Bands unter den besten fünf deutschsprachigen Musikgruppen aller Zeiten ein. In jedem Fall liegt ein Besuch der Veranstaltung „Jan Plewka singt Rio Reiser“ nahe und man wird es kaum bereuen, denn man erlebt einen Abend, den man nicht wieder vergessen wird.

Es ist Dienstag der 22. März 2011, etwa 22 Uhr. Wir befinden uns im Hamburger Schauspielhaus. Jan Plewka ist inwischen bei der zweiten (von insgesamt drei) Zugaben angekommen und spielt „Keine Macht für Niemand“ von dem gleichnamigen 1972er Kultalbum der Ton Steine Scherben. Vor mir steht (!) ein Mann im besten Alter, also knapp über 60, der mit seiner rechten Hand wild auf seinem Handy herum tippt und seine linke Hand bei jedem Refrain mit geballter Faust in die Höhe streckt und dabei die Titelzeile des Lieds mitbrüllt. Was war passiert?

Es fing alles ganz harmlos an, Jan Plewka und seine Kapelle, die schwarz-rote Heilsarmee, haben gegen 20 Uhr über den zweiten Rang singend den Saal betreten, sind schließlich auf der Bühne gelandet und haben mit „Halt Dich an Deiner Liebe fest“ gleich eines der Lieder gespielt, für die man an diesem Abend hergekommen ist. Wenig später folgt schon die Kreuzberger Hausbesetzer-Hymne „Rauch-Haus-Song“ und das Publikum wird warm und fängt an, den Refrain zu übernehmen.

Weniger ein Konzert als eine Art inszenierte Rock-Revue, schaffen es der Selig-(und TempEau.-)Sänger und seine Kapelle über ihre mal nah am Original, mal eigenwillig interpretierten Songs, die Zuschauer immer tiefer in die komplexe Welt des Rio Reiser hineinzuziehen. Wütende Rocklieder der Ton Steine Scherben („Mein Name ist Mensch“, „Schritt für Schritt in Paradies“, „Lass uns ’n Wunder sein“) wechseln sich ab mit wunderschönen Balladen aus der Solophase des Berliner Musikers („Für immer und Dich“, „Zauberland“, „Übers Meer“). Ein absoluter Höhepunkt des Abends wird die zeitlose Utopie-Hymne „Der Traum ist aus“.

Jan Plewka gibt auf seine leicht durchgeknallte, aber durchweg sympathische Art stimmlich und körperlich alles, verschwindet immer mal wieder von der Bühne, um zum Beispiel auf einem Balkon oder auf den Rängen des Saals wieder aufzutauchen und ein Lied von dort weiter zusingen. In einem wirklich unvergesslichen Moment während des Songs „Irrenanstalt“ rennt Jan Plewka mit einer Zwangsjacke bekleidet und von einer Handkamera verfolgt aus dem Schauspielhaus, über die Straße, hinein in den gegenüberliegenden Hamburger Hauptbahnhof, dabei wild die Arme schwenkend und die Zeile „Hallo, hallo, ist da die Irrenanstalt….?“ schreiend. Die armen, nichtsahnenden Reisenden und Obdachlosen sahen zum Teil recht verschreckt aus.

Der Abend ist mit viel Leidenschaft, großer Zuneigung und viel Liebe zum Detail inszeniert. Diese geht sogar so weit, den Verspieler in seiner legendären Live-Interpretation von „Somewhere over the Rainbow“ mit ins Programm einzubauen. Beim letzten Song des Hauptteils, einer Reggea-Version von „Junimond“ fordert Plewka das Publikum (endlich) auf, aufzustehen und zu tanzen. Ab da gibt es bei den Zugaben „Alles Lüge“, “Der Turm stürzt ein“, „Keine Macht für Niemand“ kein Halten mehr, nicht bei den 30- bis 40-jährigen Selig-Fans und schon gar nicht bei den zwanzig Jahre älteren Ton Steine Scherben-Jüngern.

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